Geschichten von Menschen auf Dächern

Ein neues Hobby zu finden kann manchmal eine Herausforderung sein, für mich jedoch steht das Entdecken von neuen Ecken und Plätzen immer im Vordergrund, sodass Barcelona mir ganz selbstverständlich ein großartiges neues Hobby anbot. Ich nenne es „Rooftopping“. Bestimmt würden viele sagen, dass das kein richtiges Hobby ist, aber für mich verbindet es alles was mir Spaß macht. Die Sonne genießen, neue Orte entdecken und „Peoplewatching“. Nein, ich bin kein Stalker, aber es ist einfach so interessant Ausschnitte aus fremden Konversationen mitzuhören und sich zu fragen was wohl zu diesem Gespräche geführt hat. Zu den Aussagen und Standpunkten. Warum sitzt eine junge blonde Russin, auf dem Rooftop des Hotel Colon, mir gegenüber alleine am Tisch und wartet auf niemanden? Sie sieht nicht sehr glücklich aus. Vielleicht war sie ursprünglich verabredet und wurde versetzt? Ist sie ein Hotelgast oder nur wie ich auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen um zu entspannen und  den Massen an Touristen unten auf dem Platz vor der Kathedrale zu entkommen? Ich könnte sie fragen, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie nicht lieber weiter ungestört sein möchte. Und ich denke ich liege mit dieser Vermutung richtig. Denn nach einer Weile geht sie.

Ich denke ich nenne sie Mikaela. Mikaela kommt aus Moskau und hat schwere Zeiten hinter sich, deswegen ist sie nach Spanien gekommen um Abstand zu gewinnen. Aber auch der strahlende Sonnenschein und die Schönheit Barcelonas lassen sie nicht vergessen woher sie kam und wohin sie zurück muss. Sie versucht sich zu entspannen und den lauen Frühlingstag zu genießen, doch bei jedem Lächeln der Erleichterung, das sich auf ihre Lippen wagt fühlt sie sich schuldig. Das alles hier ist nur eine Scheinwelt, etwas das nicht echt ist. Genau wie sie nicht echt ist. So fühlt sie sich zumindest.

Dramatisch, ich weiß. Vermutlich hat sie einfach nur ein „Resting- Bitch- Face“ , aber meine Geschichte gefällt mir besser. Und da ich Mikaela nie wiedersehen werde ist das jetzt ihre Geschichte – punkt!

Am Nachbartisch saßen bis eben zwei junge Frauen, die meiner Meinung nach auf den ersten Blick nicht ganz zusammenpassen, aber wer mag das schon zu beurteilen. Meine Aufmerksamkeit wecken sie, als eine der beiden ein Facetime Gespräch mit einem Kerl führt: Where ist my ex brother in law? Look! No, that’s not Sagrada Famila, douche. That’s a church. Cathedral something. Just Look at it. Dude! Im gonna sent you all of the shade and pictures of earrings because I´m a psycho.” Waaas? Ich hab soooo viele Fragen!!! Was ist das für ein Typ am Telefon? In welcher Beziehung stehen die zueinander. Warum sind sie hier? Im Urlaub? Gerade her gezogen? Und was hat es mit den Ohrringen auf sich??? Vielleicht habe ich das aber auch akustisch falsch verstanden… Nein, ich entscheide mich für die Ohrring Version. Sie hat also einen Ohrring Fetisch. Oder ist das der Typ? Den Ex-Schwager musste ich auch noch irgendwie in der Geschichte unterbringen. Das war alles so verwirrend. Erst mal brauchten die beiden Frauen Namen. Ich nenne sie Sara und Claire. Sara ging definitiv regelmäßig ins Solarium. Außerdem trug sie ein schwarzes weites Kleid in midilänge mit langen Ärmeln und aufgedruckten Bienen. Moderner Boho oder so. Und auch der Rest ihres Outfits ließ vermuten, dass sie vermutlich einigen Mode-Influencerinnen auf Instagram folgte. Claire hingegen war schneeweiß und wirkte sehr blass, was durch ihre offensichtlich schwarz gefärbten Haare (man sah den Ansatz) noch weiter verstärkt wurde. Sie wirkte schüchtern und schlicht. Genau wie ihr Outfit. Schwarzes Top und blue jeans zu schwarzen Sneakers. Neben der lauten Sara bemerkte man sie kaum. Nur der Kontrast zu ihrer Begleiterin ließ sie hervorstechen. Aber Gegensätze zogen sich ja oft an. Sara brauchte sicherlich einen ruhigen und bodenständigen Charakter wie Claire an ihrer Seite. Das war spätestens nach ihrem Facetime Gespräch mit,- nennen wir ihn mal klassisch Mike- Mike klar. Sara sah sich selbst als Psycho, weil sie Mike, der entweder ein Freund ihres Ex- Schwagers war oder eben dieser, jede Menge Bilder von Ohrringen schicken wollte. Gott sei Dank ist Claire da und klärt sie wenigstens drüber auf, dass sie eben nicht vor einer einfachen Kirche, sondern vor der Kathedrale der Stadt. In Männersachen wir Sara nicht auf Claire hören, so viel steht fest, aber das sollte sie. Denn sie wirkt irgendwie nicht wie jemand der damit ein glückliches Händchen hätte. Dann gehen sie wieder. Schade. Ich hätte gerne noch etwas mehr über die Ohrringe erfahren.

Das ist eben das Besondere an Barcelona. Etwas, dass ich bisher in keiner anderen Stadt so gesehen habe. Die Mischung an verschiedenen Menschen und Charakteren. Es ist erstaunlich wie viele es hier gibt, die ihre Heimatländer aus denselben Gründen verlassen haben, um am Ende hier zu bleiben. Ich habe den Eindruck, dass es hier viele Menschen gibt, die auf der Suche nach etwas sind. Wahrscheinlich nach sich selbst. Sie versuchen ihrem Alltag zu entkommen und verlieben sich in die Stadt, die voll ist mit Gleichgesinnten und im Durchschnitt nur 15 Tage Regen im Jahr hat. In Barcelona können sie ihre Probleme verdrängen, weil es hier jeden Tag etwas neues, etwas aufregendes gibt. Abwechslung und vor allem Freiheit die sie zu Hause nicht haben. Oder zumindest glauben sie das. Sie gehen im Spaß der Stadt und in ihrer eigenen Freiheit unter und finden sich am Ende noch ruhe- und rastloser wieder als bei ihrer Ankunft. Nur die wenigsten die ich hier kennengelernt habe, haben ihren Platz in der Stadt tatsächlich gefunden. Die meisten sind auf ihre eigene Art und Weise Überlebenskünstler. Keiner weiß wohin er will, außer dass sie nicht zurück wollen. Aber es gibt auch Ausnahmen. Menschen die wirklich nicht zurück können, zumindest nicht, wenn sie ihr Leben nach den eigenen Regeln leben wollen. Arsenia zum Beispiel. Eine junge Frau die ich am Wochenende auf einer Dragshow kennengelernt hatte. Sie kommt aus Rumänien und ihre Homosexualität wird dort nicht akzeptiert. Auch nicht von ihrer Familie. Barcelona ist ein Anlaufpunkt für viele aus der LGBTQ Community. Denn kaum eine Stadt ist so frei und offen wie Barcelona. Was mit Sicherheit auch gerade an der Flut an Gesellschaftsflüchtlingen liegt. Die Party war ein Ballroom, ein Wettbewerb unter Drag Queens. Und jeder der dort war hatte sich entsprechend gekleidet. Da ich mal wieder nicht wusste wo ich hinging und eigentlich nur ein Gläschen Wein trinken wollte, sah ich im Vergleich zu den Drags, Queens, Kings und sonstigen Hofnarren aus wie eine vorstädtliche Aufpass-Mutti auf einer Teenie Geburtstagsparty. Das konnte mir aber den Spaß am bunten Treiben nicht nehmen! Auch wenn ich mich über manche künstlerischen Darbietungen die viel Nacktheit beinhalteten wunderte…. Kunst ist nicht immer ganz verständlich für mich. Ich war noch nie auf einem Ballroom und ich war mehr als glücklich dies mit meinen neuen Freunden in meiner Lieblingsstadt zu erleben. Ich hatte das Gefühl, dass es eine solche Offenheit und so einen natürlichen Umgang ohne verurteilt zu werden bei uns in Deutschland nicht gibt. Zumindest noch nicht. Was sehr schade ist. Denn man verbaut sich so eine ganz neue Welt. Eine Welt mit mehr Spaß, mehr Farben und mehr Schönheit. Wenn dich niemand für das verurteilt was du fühlst oder wer du bist, ist es leichter seinen Weg zu finden und leichter mit sich selbst glücklich zu sein und so auch andere glücklich zu machen.

Als ich das Rooftop verlassen wollte, ging ich zum Kellner um zu bezahlen. Aber das musste ich zu meiner Überraschung nicht. Mikaela, die blonde Russin mit dem zaghaften Lächeln hatte meine Rechnung bezahlt. Wiesoooo? Und wieso hatte sie nichts gesagt? Jetzt wollte ich ihre Geschichte noch viel dringender wissen….

Ein Kommentar

  1. Svenya

    Ich war schon mehrmals in Barcelona,aber muss feststellen dass ich eigentlich noch nicht im echten Barcelona war.Wieder mal sehr gut .Danke.Mit Dir kann man unterwegs sein .

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